In den letzten Jahren hat sich eine grundlegend neue Qualität westlicher Kriegspolitik herauskristallisiert. Denn inzwischen werden renitente Staaten nicht mehr nur per Strafaktion militärisch gemaßregelt, sondern darüber hinaus im Rahmen anschließender Besatzungsregime deren Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung tief greifend entlang westlicher Interessen re-strukturiert. Gerade der Kosovo ist in vielerlei Hinsicht das Pilotprojekt dieses Neoliberalen Kolonialismus, der mittlerweile auch in anderen Ländern durchexerziert wird. „Protektorate sind in“, erläutert Carlo Masala vom NATO Defense College. „Von Bosnien über Kosovo, nach Afghanistan bis in den Irak, das Muster westlicher Interventionspolitik ist immer dasselbe. Nach erfolgreicher militärischer Intervention werden die ‚eroberten‘ Gebiete in Protektorate umgewandelt und die westliche Staatengemeinschaft ist darum bemüht, liberale politische Systeme, Rechtsstaatlichkeit und freie Marktwirtschaft in diesen Gebieten einzuführen.“
Seit dem NATO-Krieg 1999 wird der Kosovo, obwohl formal weiterhin integraler Bestandteil Jugoslawiens bzw. seines Rechtsnachfolgers Serbien, von den Vereinten Nationen verwaltet. Die hiermit beauftragte Besatzungsbehörde UNMIK verfügt dabei über nahezu uneingeschränkte Vollmachten, die sie dazu nutzte, den Kosovo entlang neoliberaler Vorgaben „aufzubauen“. Nachdem lange unklar war, wie mit der Provinz weiter verfahren werden sollte, übergab der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Martti Ahtisaari, Belgrad und Pristina im Februar 2007 den von ihm erarbeiteten Vorschlag zur „Lösung“ der Kosovo-Statusfrage. Schon früh zeichnete sich dabei die paradoxe Situation ab, dass der Ahtisaari-Bericht nicht nur von serbischer, sondern auch von großen Teilen der kosovo-albanischen Seite abgelehnt wird, er jedoch gleichzeitig von den westlichen Staaten – der selbst ernannten „internationalen Gemeinschaft“ – volle Rückendeckung erhält: „Deutschland unterstützt den Ahtisaari-Plan hundertprozentig“, betonte schon frühzeitig der deutsche UNO-Botschafter Thomas Matussek. Folgerichtig wurde der Ahtisaari-Bericht am 26. März dem UN-Sicherheitsrat mit dem Ziel einer baldestmöglichen Verabschiedung vorgelegt, eine endgültige Entscheidung soll am 10. Dezember 2007 erfolgen.
Obwohl der eigentliche Bericht das Wort „Unabhängigkeit“ noch bewusst vermied, sieht Ahtisaaris Vorschlag dennoch de facto die Herauslösung des Kosovo aus Serbien vor, wie dieser schließlich auch in seinen Ende März dem UN-Sicherheitsrat übergebenen Empfehlungen offen aussprach: „Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass die einzige praktikable Lösung für den Kosovo die Unabhängigkeit ist.“ Dies wird aber vom kompletten politischen Spektrum in Serbien kategorisch abgelehnt: So verwehrte sich Ministerpräsident Vojislav Kostunica gegen den „Raub von 15 Prozent serbischen Territoriums.“ Dennoch wird unmissverständlich klar gemacht, dass diese Pläne zur Not auch ohne die Zustimmung Belgrads durchgepeitscht werden.
Doch auch auf albanischer Seite finden Ahtisaaris Vorschläge keineswegs ungeteilte Zustimmung, denn tatsächlich wird der Kosovo hiermit kein souveräner Staat, sondern bleibt weiterhin eine Kolonie, die in Zukunft aber nicht mehr von den Vereinten Nationen, sondern von der Europäischen Union verwaltet wird, wie im ersten Teil dieser Studie beschrieben werden soll. „Unabhängigkeit unter internationaler Überwachung“ nennt sich das Konzept, das de facto bedeutet, dass es einen vollständig souveränen Staat Kosovo, in dem die Bevölkerung über die Geschicke des Landes entscheidet, niemals geben wird. Der zweite Teil beschreibt anschließend, wie die Besatzungsbehörde ihre weit reichenden Kompetenzen für eine umfassende neoliberale Umstrukturierung missbrauchte, die maßgeblich für die katastrophale wirtschaftliche Situation im Land verantwortlich ist. Während sich die serbische Seite kategorisch gegen jegliche Form der Unabhängigkeit des Kosovo – ob mit oder ohne internationale Überwachung – ausspricht, stößt in der kosovo-albanischen Bevölkerung vor allem der anvisierte Kolonialstatus und die neoliberale Zurichtung durch die westlichen Staaten auf immer größeren Widerstand. Deshalb bereiten sich Europäische Union und NATO derzeit auf bewaffnete Auseinandersetzungen mit beiden Konfliktparteien vor, wie in Kapitel drei beschrieben werden soll.
Abschließend soll hier argumentiert werden, dass die eigentliche Tragweite des Ahtisaari-Plans weit über die Region hinausreicht, da mit ihm eine neue „völkerrechtliche Unterklasse“ (Ulrich Preuß) eingeführt werden soll. Denn die offizielle Herauslösung des Kosovos aus Serbien wäre ein völkerrechtlich präzedenzloser Vorgang: Erstmalig würde mit UNO-Plazet die territoriale Integrität und damit Souveränität eines Mitgliedslandes ohne dessen Einverständnis beschnitten, was pikanterweise ohne den völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien im Jahr 1999 nicht möglich gewesen wäre. Nachdem Russland aber mittlerweile ankündigte, nur einer einvernehmlich mit Belgrad erarbeiteten Lösung zuzustimmen, wird es bis zur festgelegten Deadline am 10. Dezember wohl keine vom Sicherheitsrat formal autorisierte Lösung der Statusfrage geben. Dass Washington und Brüssel deshalb nun offen ankündigten, den Kosovo sogar ohne UN-Zustimmung gegen den Widerstand aus Moskau und Belgrad einseitig anzuerkennen, unterstreicht das Bestreben, Fragen der territorialen Integrität künftig von jeglichem rechtlichen Rahmen zu entkoppeln. Hiermit würde untermauert, dass die Unverletzlichkeit der Grenzen und somit das Souveränitätsrecht, das schwächeren Staaten bislang wenigstens einen gewissen Schutz vor Willkürakten mächtigerer Länder gewährte, fortan keine Gültigkeit mehr besitzt.
<>Sollte der Ahtisaari-Plan tatsächlich umgesetzt werden, würde mit dem Kosovo darüber hinaus ein völlig neues Gebilde entstehen, weder eigenständig noch integraler Bestandteil eines anderen Staates, sondern eine dauerhaft von der Europäischen Union kontrollierte Kolonie. „Der Kosovo-Plan der UN würde, wenn er sich umsetzen ließe, einen Staat minderer Souveränität schaffen und damit das Ende des UN-Systems souveräner Gleichheit aller Staaten einläuten.“[6] Hiermit wird die wenigstens auf dem Papier existierende formale Gleichheit zwischen den Staaten aufgekündigt und durch klare hierarchische Strukturen ersetzt.
<>mehr[pdf]